Entwurf des Österreichischen Reichstages welcher in der Zeit vom 22. Juli 1848 bis 4. März 1849 getagt hat, zuerst in Wien, ab dem 22. November 1848 in Kremsier (Mgft. Mähren) ("Kremsier Entwurf") Der Kremsier Entwurf ist ein noch nicht
ganz fertig gestellter Entwurf zu einer Verfassungsurkunde für das Kaisertum
Österreich (ohne Ungarn und Lombardo-Venetien). Insbesondere die Grundrechte,
die im Anhang zum Entwurf stehen, weil dieser nur zum Teil vom Plenum des
Reichstages beraten wurde, sowie die Bestimmungen zur Föderalisierung und
Nationalisierung verdienen Beachtung. I. Das Staatsgebiet und dessen Eintheilung § 1 – Das Kaiserthum Oesterreich ist eine untheilbare constitutionelle Erbmonarchie. § 2 – Die Länder des Kaiserreiches, für welche diese Constitution zu gelten hat, sind: 1. das Königreich Böhmen, 2. das Königreich Galizien und Lodomerien samt Krakau, 3. das Königreich Dalmatien, 4. das Erzherzogthum Oesterreich unter der Enns, 5. das Erzherzogthum Oesterreich ob der Enns ohne Innviertel, 6. das Herzogthum Salzburg sammt Innviertel, 7. das Herzogthum Steiermark, 8. das Herzogthum Kärnthen, 9. das Herzogthum Krain, 10. das Herzogthum Schlesien, 11. die Markgrafschaft Mähren, 12. die gefürstete Grafschaft Tirol sammt Vorarlberg, 13. das Küstenland, 14. die Bukowina. § 3 – Galizien und Lodomerien sammt Krakau wird in zehn, Böhmen in neun, Mähren in vier, Oesterreich unter der Enns in drei, Tirol sammt Vorarlberg in drei (Deutschtirol, Wälschtirol, Vorarlberg), Steiermark in zwei Kreise eingetheilt. Die Abgränzung dieser Kreise wird mit möglichster Rücksicht auf Nationalität durch ein Reichsgesetz festgestellt. ein jedes der übrigen Reichsländer bildet einen Kreis. § 4 – Die Reichsländer stehen zu einander im Verhältnisse der vollen Gleichberechtigung zum ganzen Kaiserstaate aber im Verhältnisse untrennbarer organischer Bestandtheile. § 5 – Jedem Reichslande bleibt die Autonomie innerhalb der durch diese Constitution festgesetzten Schranken und die Integrität seines Gebietes gesichert. § 6 – Die Aufnahme eines neuen Landes in den Reichsverband, für welchen diese Constitution gilt, kann ohne Zustimmung der gesetzgebenden Reichsgewalt nicht erfolgen. II. Staatsbürgerliche Grundrechte §§ 7 bis 32 – siehe Anhang III. Die Regierungsgewalten überhaupt § 33 – Alle Regierungsgewalten dürfen nur auf die in dieser Constitution festgesetzte Weise ausgeübt werden. § 34 – Die Regierungsgewalten sind bezüglich des Umfanges: 1. die Central- oder Reichsregierungsgewalten, welche sich auf das ganze Reich, 2. die Landesregierungsgewalten, welche sich auf ein einzelnes Reichsland erstrecken. Im Zweifel über die Competenz der Reichs- und der Landesregierungsgewalten spricht die Vermuthung für die Centralgewalt. § 35 – Die gesetzgebende Reichsgewalt wird vom Kaiser gemeinschaftlich mit dem Reichstage, die jedem Lande überlassene gesetzgebende Gewalt vom Kaiser als Landesoberhaupt gemeinschaftlich mit dem Landtage oder dem Kreistage ausgeübt. § 36 – Das Recht, Gesetze vorzuschlagen, hat jeder Theilnehmer an der gesetzgebenden Gewalt. § 37 – Die authentische Auslegung der Gesetze gebührt nur der gesetzgebenden Gewalt. § 38 – Die vollziehende Gewalt steht dem Kaiser allein zu, und wird durch verantwortliche Minister ausgeübt. § 39 – Die richterliche Gewalt wird im ganzen Reich nach gleichen Gesetzen von unabsetzbaren Richtern im Namen des Staatsoberhauptes gehandhabt. 1. Die Reichs-Centralgewalt A. Der Kaiser § 40 – Die österreichische Kaiserkrone ist nach dem Grundsatze der pragmatischen Sanction vom Jahre 1713 im Hause Habsburg-Lothringen erblich. § 41 – Die dem Kaiser zustehenden Rechte und Gewalten sind durch die Constitution festgestellt. § 42 – Die Person des Kaisers ist geheiligt und unverletzlich; er ist für die Ausübung der Regierungsgewalt nicht verantwortlich. § 43 – Der Kaiser legt nach erfolgter Annahme dieser Constitution und jeder Nachfolger unmittelbar nach seinem Regierungsantritte vor dem versammelten Reichstage folgenden Eid ab: "Ich schwöre die Constitution des Reiches fest und unverbrüchlich zu halten, und in Uebereinstimmung mit derselben und den Gesetzen zu regieren. So wahr mir Gott helfe." § 44 – Kein Regierungsact des Kaisers hat Kraft, wenn er nicht von einem Minister gegengezeichnet ist. Die Gegenzeichnung macht den Minister für diesen Act verantwortlich. § 45 – Der Kaiser ernennt und entläßt die Minister, und besetzt alle Staatsämter unter Beobachtung der durch die Constitution und die Gesetze festgestellten Bestimmungen. Er führt den Oberbefehl über die Land- und Seemacht. § 46 – Der Kaiser sanctionirt die Gesetze, macht sie bekannt, und trifft die zu deren Vollziehung nöthigen Anordnungen, ohne jemals diese Gesetze suspendiren, oder Einzelne von deren Befolgung befreien zu können. § 47 – Der Kaiser erklärt Krieg, schließt Bündnisse, Friedens- und Handelsverträge und bringt sie, sobald es thunlich ist, unter Beifügung der nöthigen Mittheilungen zur Kenntniß des Reichstages. § 48 – Handels- und alle anderen Staatsverträge, welche den Staat belasten, oder einzelnen Staatsbürgern Verpflichtungen auflegen, treten erst dann in Kraft, wenn sie die Zustimmung des Reichstages erhalten. § 49 – Der Kaiser eröffnet und schließt den Reichstag. Er hat das Recht, denselben auch außer der bestimmten Zeit zusammen zu berufen, zu vertagen, und entweder eine oder beide Kammern aufzulösen. § 50 – Die Vertagung des Reichstages darf die Frist eines Monats nicht überschreiten, und kann während derselben Sitzungsperiode ohne Zustimmung des Reichstages nicht wiederholt werden. Die Auflösung der einen Kammer hat die Vertagung der anderen bis zum Zusammentritte der neugewählten Kammer zur Folge. § 51 – Jede Auflösung einer oder beider Kammern muß von einer Verordnung zur Vornahme neuer Wahlen unmittelbar und in der Art begleitet sein, daß der neuerliche Zusammentritt des Reichstages nicht später als innerhalb dreier Monate, von dem Tage der Auflösung an gerechnet, erfolge. Die Auflösung darf binnen Jahresfrist nicht wiederholt werden. § 52 – Der Kaiser hat das Recht, die Strafen, welche von den Richtern ausgesprochen werden, zu erlassen oder zu mildern, vorbehaltlich der Bestimmungen in Betreff der Minister. § 53 – Er verleiht Orden, Titel und Auszeichnungen, ohne irgend ein Vorrecht an diese Verleihungen knüpfen zu dürfen. § 54 – Der Kaiser allein hat das Recht, nach den Bestimmungen des Gesetzes Münze schlagen zu lassen. § 55 – Nach jedem Regierungsantritte wird die Civilliste des Kaisers für seine ganze Regierungsdauer durch den Reichstag festgesetzt. Apanagen und Ausstattungen der Mitglieder des Kaiserhauses werden von Fall zu Fall durch ein Gesetz bestimmt. § 56 – Im Falle des Ablebens des Kaisers hat der Reichstag innerhalb vier, wenn aber eine oder beide Kammern aufgelöst sind (§ 51.), längstens binnen sechs vom Todestage des Monarchen zu berechnenden Wochen zusammen zu treten. § 57 – Vor Ablegung des Constitutions-Eides kann der neue Monarch keine Regierungs-Gewalt ausüben. Ist der Reichstag beim Ableben des Kaisers nicht versammelt, so vertritt die vom Thronfolger eigenhändig, im Beisein des obersten Reichsgerichtes gefertigte, und vom Letzteren entgegengenommene Eidesformel (§ 43.) mittlerweile die Stelle des sodann vor dem Reichstage wirklich abzulegenden Eides. § 58 – Der Thronfolger ist nach zurückgelegtem achtzehnten Lebensjahre großjährig. § 59 – Ist der Kaiser minderjährig, oder in der Unmöglichkeit zu regieren, so wird eine Regentschaft eingesetzt. In diesem Falle hat der Reichstag, wenn er nicht schon versammelt wäre, innerhalb der im § 56 festgesetzten Frist zur Wahl einer Regentschaft zusammen zu treten; bis dahin hat das bestehende verantwortliche Ministerium die laufenden Geschäfte fortzuführen. § 60 – Die Regentschaft kann nur von Einer Person, und zwar, so lange ein regierungsfähiger kaiserlicher Prinz vorhanden ist, nur einem solchen übertragen werden. Der Regent wird von der in Eine Versammlung vereinigten Kammern des Reichstages mit absoluter Stimmenmehrheit gewählt. § 61 – Der Regent tritt erst nach Ablegung des Constitutions-Eides (§ 43.) in das Recht ein, die verfassungsmäßigen Regierungsgewalten des Kaisers auszuüben. § 62 – Während der Regentschaft kann keine die Rechte der Krone schmälernde Veränderung in der Constitution vorgenommen werden. § 63 – Der Kaiser darf sich ohne Bewilligung des Reichstages nicht länger als zwei Monate in einem Jahre im Auslande aufhalten, und muß in einem solchen falle von einem verantwortlichen Minister begleitet sein. B. Der Reichsminister § 64 – Die Leitung der Reichsregierung liegt dem Reichs-Ministerium ob. Die Ernennung der Reichsminister, die Bestimmung ihrer Zahl und die Vertheilung der Geschäfte unter die Ministerien steht dem Kaiser allein zu. § 65 – Die Minister sind für ihre Amtsführung verantwortlich. § 66 – Kein Mitglied der kaiserlichen Familie und Niemand, der nicht österreichischer Staatsbürger durch Geburt ist, kann Minister werden. § 67 – Die Minister haben Zutritt zum Reichstage, und müssen auf ihr Verlangen jedesmal gehört werden. Die Kammern können die Anwesenheit der Minister fordern. Stimmrecht hat ein Minister nur in jener Kammer, deren Mitglied er ist. § 68 – Der Kaiser kann die Minister der Verantwortlichkeit nicht entheben. § 69 – Die Minister können nur durch einen Kammerbeschluß in Anklagestand versetzt werden, und zwar wegen jedes Mißbrauchs der Amtsgewalt, insbesondere aber wegen Verletzung der Verfassung, wegen Hochverrath oder Bestechung. § 70 – Der Kaiser kann einen vom obersten Reichsgerichte verurtheilten Minister nur auf Anlangen der anklagenden Kammer begnadigen. § 71 – Die näheren Bestimmungen über die Verantwortlichkeit der Minister, über das Verfahren bei der Anstellung der Klage und über die zu verhängenden Strafen enthält ein besonderes Reichsgesetz, welches als Bestandteil der Constitution zu gelten hat. § 72 – Die Bildung eines dem Ministerium berathend zur Seite stehenden Reichsrathes, und die Normirung seiner Wirksamkeit wird einem besonderen Reichsgesetze vorbehalten. C. Der Reichstag § 73 – Der Reichstag, besteht aus zwei Kammern, der Volks- und der Länderkammer. § 74 – Der Reichstag tritt regelmäßig jedes Jahr am fünfzehnten des Monates März zusammen, wenn ihn der Kaiser nicht früher einberuft. § 75 – Die Mitglieder der beiden Kammern vertreten die Gesammtheit der Länder, für welche diese Constitution Giltigkeit hat; dürfen keine Instructionen annehmen und ihr Stimmrecht nur persönlich ausüben. § 76 – Die Sitzungen beider Kammern sind öffentlich. Ausnahmsweise kann eine nicht öffentliche Sitzung stattfinden, wenn entweder der Präsident, oder in der Volkskammer wenigstens 20, in der Länderkammer wenigstens 10 Abgeordnete es verlangen, und nach Entfernung der Zuhörer die Majorität sich dafür entscheidet. § 77 – Jede Kammer hat das Recht, allein über die Giltigkeit der Wahl ihrer Mitglieder zu entscheiden. § 78 – Wenn ein Mitglied des Reichstages ein besoldetes Staatamt annimmt, oder wenn ein in den Reichstag gewählter Staatsbeamter in eine höhere Diensteskategorie tritt, außer der graduellen Vorrückung einen höheren Gehalt oder eine Personalzulage erhält, so muß er sich einer neuen Wahl zu unterziehen. § 79 – Keinem gewählten öffentlichen Beamten darf der nöthige Urlaub versagt werden. § 80 – Niemand kann gleichzeitig Mitglied beider Kammern sein. § 81 – Kein Abgeordneter kann für seine Wirksamkeit als solcher gerichtlich verfolgt oder zur Rechenschaft gezogen werden. § 82 – Kein Abgeordneter darf vom Tage der Einberufung des Reichstages und während der Dauer der Sitzungsperiode, ohne ausdrückliche Zustimmung der Kammer, welcher er angehört, gerichtlich verfolgt oder verhaftet werden, außer im Falle der Ergreifung auf frischer That. Wenn es die Kammer verlangt, muß der Verhaft aufgehoben, oder die Verfolgung für die ganze Sitzungsperiode aufgeschoben werden. § 83 – Jedes Mitglied des Reichstages erhält Taggelder und eine Reiseentschädigung nach den Bestimmungen eines besonderen Gesetzes. Kein Mitglied darf auf diese Bezüge verzichten, oder in vorhinein zu Gunsten dritter Personen darüber verfügen. § 84 – Jede Kammer wählt ihren Präsidenten und die übrigen Functionäre für die ganze Dauer einer Sitzungsperiode. § 85 – Zur Giltigkeit eines Beschlusses ist in jeder Kammer die Anwesenheit der Mehrzahl ihrer Mitglieder und die absolute Stimmenmehrheit der Anwesenden nothwendig. Abweichende Bestimmungen hinsichtlich der von jeder Kammer vorzunehmenden Wahlen bleiben der Geschäftsordnung vorbehalten. § 86 – Nur durch Uebereinstimmung beider Kammern kommt ein Reichstagsbeschluß zu Stande. § 87 – Ertheilt der Kaiser einem Reichstagsbeschlusse die Sanction, so tritt derselbe als Reichsgesetz in volle Kraft. Wird die Sanction nicht ertheilt, so darf derselbe Gesetzesvorschlag in der nämlichen Sitzungsperiode nicht wieder vorgebracht werden. Die Erklärung der Krone über die Sanction eines Reichstagsbeschlusses muß jedenfalls vor dem Schlusse der Sitzungsperiode erfolgen, in welcher er gefaßt wurde. § 88 – Wird derselbe Gesetzesvorschlag in der folgenden ordentlichen Jahressession abermahls unverändert angenommen und wieder nicht sanctionirt, so muß der Reichstag aufgelöst werden. Nimmt der neuzusammentretende Reichstag denselben Gesetzesvorschlag wieder unverändert an, so darf die kaiserliche Sanction nicht verweigert werden. § 89 – Jede Kammer hat das Recht, behufs ihrer Information zur Untersuchung von Thatsachen Commissionen zu ernennen. § 90 – Petitionen darf der Reichstag nur annehmen, wenn sie der Kammer durch ein Mitglied überreicht werden. Die persönliche Ueberreichung von Bittschriften und die Annahme von Deputationen ist unzulässig. § 91 – Jede Kammer hat das Recht, von den Ministern Auskünfte zu verlangen, Erhebungen durch dieselben zu veranlassen und ihnen Petitionen zur Erledigung zu überweisen oder zur Beachtung zu empfehlen. § 92 – Jedem Mitgliede des Reichstages steht das Recht zu, die Minister zu interpelliren. § 93 – Die näheren Bestimmungen über den Geschäftsgang, den wechselseitigen und den Außenverkehr der beiden Kammern werden durch die Geschäftsordnung geregelt. d) Die Volkskammer § 94 – Die Volkskammer besteht aus 360 Abgeordneten. Die im Wahlgesetze zu bestimmenden größeren Orte sammt ihrem Weichbilde senden achtzig, die übrige Bevölkerung aber zweihundert achtzig Abgeordnete. § 95 – Das active Wahlrecht steht jedem österreichischen Staatsbürger zu, welcher a) das 24. Lebensjahr vollendet hat, b) sich im vollen Genusse der staatsbürgerlichen Rechte befindet, und c) eine directe Steuer in dem vom Wahlgesetze bestimmten Minimum entrichtet, oder einen Pacht- oder Miethzins zahlt, von welchem eine direkte Steuer gleichen Betrages entfällt. Das im Wahlgesetze festzustellende Minimum der directen Steuer darf den Betrag von fünf Gulden C. M. nicht übersteigen. § 96 – Die Wahlen geschehen direct und mit einer relativen Stimmenmehrheit von wenigstens einem Viertheile der Stimmenden. Jeder Kreis ist, mit Ausscheidung der zur eigenen Vertretung berechtigten Orte, durch das Wahlgesetz je nach der Größe seiner Bevölkerung in solche Wahlbezirke zu theilen, daß in jedem Bezirke wenigstens zwei und höchstens drei Deputirte zu wählen sind. § 97 – Die Erfordernisse des passiven Wahlrechtes (der Wählbarkeit) sind: 1. das österreichische Staatsbürgerrecht, 2. der Vollgenuß der staatsbürgerlichen Rechte, 3. ein Alter von wenigstens 28 Jahren, und 4. der ordentliche Wohnsitz von wenigstens Einem Jahre im Reich. § 98 – Die Legislaturs-Periode der Volkskammer wird auf drei Jahre festgesetzt. e) Die Länderkammer § 99 – Die Länderkammer besteht: 1. aus je sechs Abgeordneten jedes einzelnen Reichslandes, welche durch die Landtage gewählt werden; 2. aus je einem durch den Kreistag zu wählenden Abgeordneten jedes Kreises der Länder, welche aus zwei oder mehreren Kreisen bestehen. also insgesamt 115 Abgeordnete § 100 – Die Abgeordneten der Länderkammer werden auf sechs Jahre gewählt. Alle drei Jahre hat die Hälfte der Abgeordneten eines jeden Reichslandes und die Hälfte der Kreisabgeordneten auszutreten. § 101 – Als Abgeordneter in die Länderkammer ist derjenige wählbar, welcher die Erfordernisse der Wählbarkeit in den Landtag und das 33. Lebensjahr vollendet hat. 2. Die Landesregierungs-Gewalt A. Die Landesverwaltung § 102 – An der Spitze der Verwaltung eines jeden Reichslandes steht ein, vom Kaiser ernannter, dem Reichsministerium für den Vollzug der Reichsgesetze und für die Ausübung der Reichsregierungs-Gewalt verantwortlicher Chef, welcher in Reichsländern, die aus zwei oder mehreren Kreisen bestehen, Statthalter, in Reichsländern, die aus einem Kreise bestehen, Landeshauptmann (Gouverneur) genannt wird. § 103 – Ob und in welcher Art dem Statthalter, ohne die Einheit des Reiches und die Competenz der Centralgewalt zu beirren, für den Vollzug der Landesgesetze verantwortliche und vom Kaiser zu ernennende Statthaltereiräthe beizugeben seien, bleibt den betreffenden Landesverfassungen vorbehalten. § 104 – Der Landeshauptmann (Gouverneur), der Statthalter, oder falls ihm verantwortliche Räthe zur Seite stehen, das contrasignirende Mitglied des Statthalterei-Rathes ist dem Landtage für den Vollzug der Landesgesetze verantwortlich. Wo verantwortliche Statthaltereiräthe bestehen, hat kein die Vollziehung der Landesgesetze betreffender Act des Statthalters Giltigkeit ohne Gegenzeichnung eines verantwortlichen Statthalterei-Rathes. § 105 – Der Landtag hat das Recht, den Landeshauptmann (Gouverneur), den Statthalter oder die Statthalterei-Räthe in Anklagestand zu versetzen; die Aburtheilung steht dem obersten Reichsgerichte zu. § 106 – Der Landeshauptmann (Gouverneur), der Statthalter und die Statthaltereiräthe haben Zutritt in den Landtag und müssen auf ihr Verlangen gehört werden. Der Landtag kann deren Gegenwart fordern. § 107 – Der Statthalter oder der Landeshauptmann (Gouverneur) hat alle in den Geschäftskreis der Reichsministerien des Innern, des Unterrichtes und Cultus gehörigen Angelegenheiten im Namen des betreffenden Ministeriums unmittelbar zu erledigen. In Angelegenheiten der Universitäten und polytechnischen Institute hat er sich jedoch früher mit dem Reichministerium in das Einvernehmen zu setzen. § 108 – Welche in andere Reichsministerien einschlagende Angelegenheiten der Statthalter oder der Landeshauptmann (Gouverneur) im Namen des Reichsministeriums unmittelbar oder in wichtigeren Fällen nach eingeholten Weisungen zu erledigen berechtigt sei, bleibt der weiteren Organisation der Länderverwaltungen vorbehalten. § 109 – Die Bestimmungen über die Beamten, welche in jedem Reichslande für die zur selbstständigen gesetzgebenden Gewalt der Landtage gehörigen Geschäfte zu bestellen sind, bleiben der Landesverfassung und der Landesgesetzgebung vorbehalten. B. Die Landtage § 110 – Jedes Reichsland hat das Recht, einen eigenen Landtag abzuhalten. § 111 – Die durch constituirende Landtage festzustellenden Landesverfassungen treten erst dann in Kraft, wenn sie von der gesetzgebenden Reichsgewalt bestätigt worden sind. Dasselbe gilt auch von einer später vorzunehmenden Revision der Landesverfassung; jedoch darf diese Bestätigung vom Reichstage nicht verweigert werden, wenn die Bestimmungen derselben mit den in der Reichs-Constitution aufgestellten Grundsätzen nicht im Widerspruche stehen. § 112 – In den Landesverfassungen sind folgende grundgesetzliche Bestimmungen festzuhalten: 1. Die Abgeordneten sind nach der Volkszahl, vorbehaltlich der Bestimmungen über die besondere Vertretung größerer Orte, direct zu wählen; 2. für das active und passive Wahlrecht dürfen, außer einem einjährigen ordentlichen Wohnsitze im betreffenden Reichslande, keine anderen oder größeren Beschränkungen festgestellt werden, als das Gesetz für die Wahlen zur Volkskammer angeordnet; 3. die Wahlbezirke sind mit möglichster Berücksichtigung der Nationalität zu bilden; 4. die Verhandlungen sind öffentlich, unter Anerkennung der gleichen Berechtigung der Landessprachen; 5. der den Landesgewalten durch diese Constitution zuerkannte autonome Wirkungskreis darf nicht überschritten werden. § 113 – Reichsländern von gemischter Nationalität bleibt vorbehalten, eine Institution in die Landesverfassung aufzunehmen, durch welche Angelegenheiten von rein nationeller Natur nach Art eines Schiedsgerichtes zu entscheiden sind. § 114 – Zur selbstständigen gesetzgebenden Gewalt der Landtage gehören: 1. Das Landesfinanzwesen: a) die Verfügung mit den Landesfonden und Landesgütern, b) die Landesauflagen zur Deckung der Landesausgaben, c) das Landesschuldenwesen, d) die Festsetzung des jährlichen Landesbudgets; e) die Abnahme, Prüfung und Erledigung der Landesrechnungen. 2. Politische Landesangelegenheiten: a) die Beförderung der Künste und Wissenschaften; b) die Ueberwachung der frommen Stiftungen; c) das Armenwesen, die Kranken- und Humanitätsanstalten; d) Gesinde-, Feuerlösch- und Bauordnungen. 3. Staatswirthschaftliche Angelegenheiten: a) die Hebung der Urproduction, des Gewerbefleißes und des Verkehrs im Innern des Landes; b) die Errichtung von Sparcassen, Leihanstalten und Hypothekenbanken; c) das Landescommunicationswesen durch Straßen und Canäle, dann Flußregulirungen und sonstige Wasserbauten; d) öffentliche Bauten zu Landeszwecken. § 115 – Der Landtag hat ferner innerhalb der durch Reichsgesetze festgestellten Beschränkungen zu regeln: 1. das Unterrichts- und Volkserziehungswesen; 2. die Cultus- und kirchlichen Angelegenheiten; 3. die Landespolizei in allen im § 114 nicht aufgeführten Zweigen. § 116 – Der Landtag hat ferner aller innern Angelegenheiten zu regeln, welche ihm durch Reichsgesetze zugewiesen werden. § 117 – Landtagsbeschlüsse erhalten erst durch die Sanction des Kaisers die Kraft verbindender Landesgesetze. § 118 – Der Landtag ist berechtigt, von der Regierung Aufschlüsse über alle Zweige der Landesverwaltung zu verlangen, Petitionen an und in Verhandlung zu nehmen, Untersuchungscommissionen anzuordnen, Adressen an den Kaiser und den Reichstag, sowie Zuschriften an die Landtage anderer Reichsländer zu richten. § 119 – Die Landtage werden vom Kaiser in der Regel jährlich am 15. November in den Sitz der Landesregierung einberufen, und vom Landeschef mit einer umständlichen Botschaft eröffnet. Die Landtage dürfen nicht gleichzeitig mit dem Reichstage ihre Sitzungen halten. § 120 – Die Legislaturperiode jedes Landtages wird auf drei Jahre festgesetzt. Dem Kaiser steht das Recht zu, den Landtag unter Ausschreibung neuer Wahlen aufzulösen. § 121 – Die Auflösung der Länderkammer des Reichstages hat die Auflösung sämmtlicher Landtage zur Folge. § 122 – Die Bestimmungen der §§ 75, 76, 77, 78, 79, 81, 82, 83, 84, 85 und 90 haben in ihrer Wesenheit auch für die Landtage zu gelten. C. Die Kreistage und Gemeinden § 123 – Die Kreistage werden aus Abgeordneten des betreffenden Kreises gebildet, die gleichzeitig mit den Landtagsabgeordneten auf dieselbe Weise und Dauer in doppelter Anzahl gewählt werden. Sollte nach dieser Bestimmung die Anzahl der Abgeordneten eines Kreises größer ausfallen, als die Gesammtzahl der Abgeordneten des betreffenden Landtages, so hat es bei der einfachen Anzahl zu verbleiben. § 124 – Die Kreistage werden durch den Landeschef zu der ordentlichen Jahressitzung am 15. October nach dem Sitze der Kreisregierung berufen. Außerordentliche Sitzungen werden durch den Kreischef nach eigenem Ermessen, oder über Aufforderung eines Drittheils der Kreisabgeordneten anberaumt. § 125 – In den Wirkungskreis der Kreistage gehören: 1. Gemeindeangelegenheiten, und zwar: a) die Entwerfung der Gemeindeordnung unter Beobachtung des Reichsgemeindegesetzes, sowie die Bestätigung der Statuten der einzelnen Gemeinden; b) die Ueberwachung und Controlle aller Gemeinden aller Gemeinden in der Gebahrung mit dem Stammvermögen; c) die Entscheidung über alle Streitigkeiten zwischen Gemeinden oder Gemeindegliedern und Vorständen im Berufungswege nach den Bestimmungen des Gemeindegesetzes; d) die Entscheidung über Heimatsrechte und verweigerte Aufnahme eines Staatsbürgers in den Gemeindeverband. Gegen die Entscheidung des Kreises in Gemeindeangelegenheiten ist keine weitere Berufung zulässig. 2. Die Kreisstraßen- und sonstigen Kreiscommunicationsmittel; 3. die Errichtung von Sparcassen und Leihanstalten; 4. die Besorgung aller Angelegenheiten, welche nur die Kreisgemeinde oder mehrere Bezirke derselben betreffen. § 126 – Außerdem wird dem Kreistage, wenn er es im Interesse des Kreises für nothwendig findet, innerhalb der Schranken der Reichs- und Landesgesetze zur Regelung und Verwaltung überlassen: a) das Volksunterrichts- und Erziehungswesen mit dem Rechte der Bestimmung der Unterrichtssprache und der Sprachgegenstände, jedoch mit gleich gerechter Beachtung der Sprachen des Kreises; b) das Armenwesen; c) die Kranken- und Humanitätsanstalten; d) die localen frommen Stiftungen; e) die Anstalten zur Hebung des Ackerbaues. § 127 – Die Kreistage haben das Recht, Kreisauflagen zur Bestreitung der Kreisbedürfnisse zu erheben. § 128 – In jenen Reichsländern, die nur einen Reichskreis bilden, hat der Landtag zugleich die Functionen des Kreistages. § 129 – Dem Landes-Chef steht das Recht zu, Kreistage, die nicht zugleich Landtage sind, unter Ausschreibung neuer Wahlen aufzulösen. § 130 – Den Gemeinden wird die Selbstbestimmung in allen Angelegenheiten, welche ausschließlich das Gemeinde-Interesse betreffen, und deren Selbstverwaltung innerhalb der durch das Reichsgemeinde-Gesetz und durch die Gemeinde-Ordnungen festgesetzten Gränzen zugesichert. § 131 – Das Gemeinde-Gesetz muß jeder Gemeinde als unveräußerliche Rechte gewährleisten a) die freie Wahl ihrer Vorsteher und Vertreter; b) die Aufnahme neuer Mitglieder in den Gemeindeverband; c) die selbstständige Verwaltung ihrer Angelegenheiten und die Handhabung der Ortspolizei; d) die Veröffentlichung ihres Haushaltes, und in der Regel Oeffentlichkeit der Verhandlungen. Die Beschränkungen dieses Rechtes, die Aufnahme in den Gemeindeverband zu verweigern, und des Rechtes, das Gemeindegut oder das Stammvermögen der Gemeinde zu veräußern oder zu belasten, enthält das Gemeindegesetz. IV. Die richterliche Gewalt § 132 – Die Gerichtsbarkeit wird selbstständig durch vom Staate bestellte Gerichte ausgeübt. Cabinets- und Ministerial-Justiz ist unstatthaft. Patrimonialgerichte dürfen nicht bestehen. § 133 – Die Organisation der Gerichte, die Feststellung der Gehalte der Mitglieder des Richterstandes, die Bestimmung derjenigen höheren Gerichtsposten, welche der Monarch nach früher veröffentlichten Candidatenlisten besetzt, und die Art und Weise der Bildung dieser Candidatenlisten wird durch ein organisches Gesetz geregelt. § 134 – Besondere Gesetze bestimmen die Einrichtung und den Wirkungskreis der Militär-, Handels-, Wechsel-, See- und Berggerichte. § 135 – Die Richter werden auf Lebenszeit ernannt. Sie können nur durch einen Urtheilsspruch des obersten Reichsgerichtes von ihrem Amte entfernt oder an Rang und Gehalt beeinträchtiget, suspendirt, und nur mit ihrer eigenen Zustimmung an einen andern Posten versetzt werden. § 136 – Kein Richter darf neben seinem Amte noch eine besoldete Stelle von der Regierung annehmen. § 137 – Rechtspflege und Verwaltung sollen getrennt und von einander unabhängig sein. Der Sicherheitsbehörde steht keine Gerichtsbarkeit zu. Ueber Competenzconflicte zwischen den Gerichts- und Verwaltungsbehörden entscheidet ein durch das Gesetz zu bestimmender Gerichtshof. § 138 – Wegen Verletzung der durch die Constitution festgestellten staatsbürgerlichen Rechte durch Bedienstete des Staates in Ausübung ihrer Amtsgewalt kann der Verletzte durch eine Civilklage vom Staat volle Genugthuung fordern. Diese Civilklage schließt die strafrechtliche Verfolgung des Schuldtragenden nicht aus. § 139 – Am Sitze der Centralregierung besteht das oberste Reichsgericht; den Präsidenten und die eine Hälfte der Räthe ernennt der Kaiser; der Vicepräsident und die andere Hälfte der Räthe wird von der Länderkammer gewählt. Dieses Reichsgericht darf nicht in mehreren Senaten fungiren. § 140 – Das oberste Reichsgericht hat als einzige Instanz das Richteramt auszuüben: 1. bei Klagen auf Genugthuung wegen Verletzung constitutioneller Rechte durch Amtshandlungen der Staatsbediensteten (§ 138.); 2. wenn es sich um Absetzung, Suspension oder Versetzung eines Richters handelt; 3. in allen Streitigkeiten zwischen den Reichsländern unter einander und in Competenzstreitigkeiten der Central- und Länder-Regierungsgewalten; 4. bei Anklagen gegen die Minister, Länder-Chefs und Statthaltereiräthe; 5. bei Verschwörungen oder Attentaten gegen die Person des Staatsoberhauptes, gegen den Reichstag oder gegen einen Landtag. V. Die Staatsbeamten § 141 – Die besonderen Verhältnisse der nicht zum Richterstande gehörigen Staatsbeamten, einschließlich der Staatsanwälte, werden durch ein Gesetz geregelt, welches, ohne die Regierung in der Wahl der ausführenden Organe zweckwidrig zu beschränken, den Staatsbeamten gegen willkürliche Entfernung vom Amte und Einkommen angemessenen Schutz gewährt. VI. Die Finanzen § 142 – Alle Einnahmen und Ausgaben des Reiches müssen für jedes Jahr vorhinein veranschlagt und auf den Staatshaushaltsetat gebracht werden. Letzterer wird jährlich durch ein Gesetz, welches die Volkskammer allein votirt, festgestellt. § 143 – Reichssteuern und Abgaben dürfen nur, insoweit sie in den Staatshaushaltsetat aufgenommen, oder durch besondere Gesetze angeordnet sind, erhoben werden. § 144 – In Betreff der Steuern und Abgaben kann kein Privilegium eingeführt, eine Befreiung oder ein Nachlaß aber nur durch ein Gesetz bestimmt werden. § 145 – Die Aufnahme von Staatsanleihen, sowie Uebernahme von Garantien zu Lasten des Staates findet nur auf Grund eines Gesetzes Statt. § 146 – Ueberschreitungen des Staatsvoranschlages dürfen nur über motivirte, von dem Gesamtministerium gegengezeichnete, gehörig kundgemachter Verordnungen geschehen, und sind dem Reichstage bei seinem nächsten Zusammentritte zur Genehmigung vorzulegen. § 147 – Die allgemeine Reichsrechnung muß jährlich nebst einer Uebersicht der Staatsschulden dem Reichstage vorgelegt, und die Entlastung der Reichsregierung erwirkt werden. § 148 – Die Reichsländer dürfen zur Bestreitung der Auslagen für Landeszwecke eine Auflage, welche eine Bewachung oder Controlle an den Gränzen der Reichsländer gegen einander oder gegen die Nachbarstaaten nothwendig macht, nur über Genehmigung der gesetzgebenden Reichsgewalt bewilligen. VII. Die bewaffnete Macht § 149 – Die Organisation der Land- und Seemacht, so wie die Art ihrer Ergänzung wird durch ein Reichsgesetz bestimmt, welches auch die Art der Beförderungen zu regeln hat. § 150 – Die Stärke der Land- und Seemacht und deren Ergänzung wird durch ein Reichsgesetz und zwar immer auf die Dauer eines Jahres festgesetzt. § 151 – Zur Verwendung von Truppen fremder Staaten ist die Zustimmung des Reichstages erforderlich, welche auch eingeholt werden muß, wenn fremde Truppen das Staatsgebiet betreten, oder durch dasselbe ziehen sollen. § 152 – Die Nationalgarde muß wenigstens in allen Orten von tausend oder mehr Einwohnern bestehen; ihre Einrichtung wird durch ein Gesetz geregelt. § 153 – Die bewaffnete Macht kann zur Unterdrückung innerer Unruhen und zur Ausführung der Gesetze nur auf Requisition der Civilbehörden und in den vom Gesetze bestimmten Fällen und Formen verwendet werden. VIII. Allgemeine Bestimmungen § 154 – Das Wappen des Kaiserthums bleibt unverändert. Die Farben des Hauses Habsburg-Lothringen: Weiß-roth-gold, werden als Reichsfarben angenommen. § 155 – Wien ist die Hauptstadt des Kaiserthums, der Sitz der Centralregierung und des Reichstages. § 156 – Jeder Fremde, welcher sich auf österreichischem Gebiete befindet, genießt den Schutz, welcher den Personen und Güthern im allgemeinen vom Staate gewährt wird, mit Vorbehalt der durch das Gesetz zu bestimmenden Ausnahmen. § 157 – Die Constitution kann weder ganz noch theilweise aufgehoben werden; nur in Fällen des Krieges oder Aufruhrs, und nur von der verantwortlichen Regierungsgewalt, mit Zustimmung der legislativen Gewalt, oder, falls diese einzuholen unmöglich wäre, gegen nachträgliche Rechtfertigung vor derselben, darf eine theilweise Suspension der constitutionellen Rechte verfügt werden. Unter welchen Bedingungen, und mit welchen Folgen dieß geschehen dürfte, hat ein besonderes Gesetz zu bestimmen. IX. Revision der Constitution § 158 – Die gesetzgebende Gewalt hat das Recht, zu erklären, daß irgend eine Bestimmung dieser Constitution der Revision bedürfe. Eine solche Erklärung hat die Auflösung des Reichstages und die unverzügliche Einberufung eines neuen unmittelbar zur Folge. § 159 – Der neue Reichstag beschließt sodann über die der Revision unterzogenen Punkte. Zur Giltigkeit eines Beschlusses, der eine wirkliche Veränderung herbeiführen soll, ist es nothwendig, daß in jeder der beiden Kammern wenigstens drei Viertheile ihrer Mitglieder anwesend seien, und wenigstens zwei Drittheile der Anwesenden in jeder Kammer zugestimmt haben. Die Abstimmung muß über Namensaufruf mündlich geschehen. § 160 – Bei Reichstagsbeschlüssen über Aenderungen in der Constitution, durch welche die verfassungsmäßigen Rechte der Krone geschmälert werden, steht dem Kaiser das absolute Veto zu. Vorübergehende Bestimmungen I – Für die Wahl der Abgeordneten zu dem constituirenden Landtage jedes Reichslandes hat das Wahlgesetz für die Volkskammer mit folgenden Abweichungen zu gelten: 1. Für jeden Ort von 6.000 Einwohnern ist Ein Abgeordneter, für Orte von 10. bis 15.000 Einwohnern sind zwei, für Orte von mehr als 15. bis 30.000 Einwohnern sind drei Abgeordnete, für Orte von mehr als 30.000 Einwohnern ist für je 10.000 Einwohner, sowie für je 25.000 Seelen der übrigen Bevölkerung Ein Abgeordneter zu wählen. Würde nach dieser Regel die Anzahl der Abgeordneten der größeren Orte weniger als ein Drittheil der Abgeordneten der übrigen Bevölkerung betragen, so sind die auf die größeren Orte sich beziehenden Seelenzahlen in der Art verhältnißmäßig zu vermindern, daß das Drittheil erreicht werden. Würde aber die Gesamtzahl der Landtagsmitglieder kleiner ausfallen als sechzig, so sind alle angegebenen Seelenzahlen verhältnismäßig so herabzusetzen, daß die Gesammtzahl der Abgeordneten sechzig erreiche. 2. Für das active Wahlrecht ist nebst den im § 95 festgesetzten Erfordernissen der ordentliche Wohnsitz von wenigstens Einem Jahre in dem betreffenden Reichslande nothwendig. II – Die constituirenden Landtage sind gleich nach dem Schlusse des constituirenden Reichstages einzuberufen, und haben sich ausschließlich mit der Feststellung der Landesverfassung zu beschäftigen, und dieselbe binnen längstens drei Monaten zu vollenden. Ueberdieß haben sie auch die Abgeordneten für die Länderkammer zu wählen. III – Vom constituirenden Reichstage sind noch folgende Gesetze zu votiren: 1. Das Gesetz über die Abgränzung der Kreise. 2. Das Wahlgesetz 3. Das Aufruhrgesetz. 4. Das Gesetz zur Einführung der Constitution. Alle andern in Folge der Constitution nothwendigen Gesetze bleiben der nächsten Legislatur vorbehalten. Vom Constitutions-Ausschusse des ersten österreichischen Reichstages. Feifalik, Vorsitzer. Pinkas, Vositzers-Stellvertreter. Mayer, Berichterstatter im Ausschusse Cavalvabó, Filippi, Fischhof, Goldmark, Gobbi (später Vlach), Goriup, Halter, Hein, Joachimovicz, Kautschitsch, Krainz, Lasser, Laufenstein, Madonizza, Mikofitsch, Palacky (später Strobach), Pfretschner, Petranovich, Plenocovich, Ratz, Rieger, Scholl, Smolka, Turco, Vacano, Violand (später Brestel), Ziemialkowski. Freyenwald, Keller, Much, Willim: Vom Justizministerium dem Ausschusse zugewiesene Schriftführer. GRUNDRECHTE Die Grundrechte nach §§ 1 bis 13 sind von
der Plenarversammlung des Reichstages beraten und angenommen worden; die
nachfolgenden Grundrechte wurden vom Constitutions-Ausschuß verabschiedet. Sie
wurden vom Reichstag noch nicht an die vorgesehene Stelle in der Constitution
(II. Abschnitt) eingestellt, weshalb sie stets erst im Anhang zum
Constitutionsentwurf zu finden sind. § 1 – Vor dem Gesetze sind alle Staatsbürger gleich. Die Constitution und das Gesetz bestimmen, unter welchen Bedingungen die österreichische Staatsbürgerschaft erworben, ausgeübt und verloren wird. Die Gesammtheit der Staatsbürger ist das Volk. Alle Standesvorrechte sind abgeschafft. Adelsbezeichnungen jeder Art werden vom Staate weder verliehen noch anerkannt. Die öffentlichen Aemter und Staatsdienste sind für alle dazu befähigten Staatsbürger gleich zugänglich. Ausländer sind vom Eintritte in Civildienste und in die Volkswehr ausgeschlossen. Ausnahmen werden durch besondere Gesetze bestimmt. Zu öffentlichen Auszeichnungen oder Belohnungen berechtigt nur das persönliche Verdienst. Keine Auszeichnung ist vererblich. Amtstitel dürfen nicht als bloße Ehrentitel verliehen werden. Im Ausschußentwurf war hier auch der
Satz: "Alle Staatsgewalten gehen vom Volke aus." zu finden, doch
mußte dieser in der Endberatung gestrichen werden. § 2 – Die Freiheit der Person ist gewährleistet. Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden; privilegirte und Ausnahmsgerichte dürfen nicht bestehen. Niemand darf verhaftet werden, außer kraft eines richterlichen, mit Gründen versehenen Befehles, den Fall der Betretung auf der That ausgenommen. Der Verhaftungsbefehl muß dem Verhafteten sogleich oder spätestens 24 Stunden nach der Verhaftung zugestellt werden. Jeder von den Organen für die öffentliche Sicherheit Angehaltene muß binnen 24 Stunden an sein ordentliches Gericht abgeführt oder freigelassen werden. Jeder Angeschuldigte ist gegen eine vom Gerichte nach dem Gesetze zu bestimmende Bürgschaft ode Caution auf freiem Fuße zu untersuchen, die Fälle ausgenommen, welche das Strafgesetz bestimmt. § 3 – Das Verfahren vor dem erkennenden Gerichte in Civil- und Strafsachen ist öffentlich und mündlich. Die Ausnahmen bestimmt das Gesetz. In Strafsachen gilt der Anklageprozeß. Schwurgerichte haben jedenfalls bei Verbrechen, der politischen und Preßvergehen zu erkennen. Niemand darf wegen einer strafbaren Handlung, rücksichtlich deren er bereits durch das Geschwornengericht für nicht schuldig erklärt wurde, nochmals in Untersuchung gezogen werden, ausgenommen den Fall der Cassation des ganzen Verfahrens. § 4 – Eine Strafe kann nur durch gerichtlichen Spruch nach einem zur Zeit der strafbaren Handlung schon bestandenen Gesetze verhängt werden. Die Todesstrafe ist abgeschafft. Die Strafen der öffentlichen Arbeit, der öffentlichen Ausstellung, der körperlichen Züchtigung, der Brandmarkung, des bürgerlichen Todes und der Vermögens-Einziehung dürfen nicht angewendet werden. § 5 – Das Hausrecht ist unverletzlich. Eine Durchsuchung der Wohnung und der Papiere oder eine Beschlagnahme der letzteren ist nur über richterliche Verordnung oder über Auftrag des Gemeindevorstandes, in den gesetzlich bestimmten Fällen und Formen zulässig. Die Unverletzlichkeit des Hausrechtes ist kein Hinderniß der Verhaftung eines auf frischer That Betretenen oder gerichtlich Verfolgten. § 6 – Das Briefgeheimniß darf nicht verletzt, und die Beschlagnahme von Briefen nur auf Grund eines richterlichen Befehles und nach den Bestimmungen des Gesetzes vorgenommen werden. § 7 – Das Recht der Petition und der Sammlung von Unterschriften auf Petitionen ist unbeschränkt. § 8 – Die Freizügigkeit der Person und des Vermögens innerhalb des Staatsgebietes unterliegt nur den in den Gemeindeordnungen enthaltenen Beschränkungen. Von Staatswegen wird die Freiheit der Auswanderung nicht beschränkt. Es darf kein Abfahrtsgeld, Fälle der Nothwendigkeit der Reciprocität ausgenommen, gefordert werden. § 9 – Die österreichischen Staatsbürger haben das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln; jedoch sind Volksversammlungen unter freiem Himmel vorläufig der Sicherheitsbehörde anzuzeigen, dürfen aber nur in Fällen dringender Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit untersagt werden. Keine Abtheilung der Volkswehr darf als solche über politische Fragen berathen oder Beschlüsse fassen. § 10 – Die österreichischen Staatsbürger haben das Recht, ohne behördliche Bewilligung Vereine zu bilden, insoferne Zwecke und Mittel der Vereinigung weder rechtswidrig noch staatsgefährlich sind. Die Regelung dieses Rechtes darf nur durch ein Gesetz geschehen. § 11 – Den österreichischen Staatsbürgern ist die Freiheit des Glaubens gewährleistet. Sie sind unbeschränkt in der häuslichen und öffentlichen Ausübung ihrer Religion, soweit diese Ausübung weder rechts- noch sittenverletzend ist, noch auch den bürgerlichen oder staatsbürgerlichen Pflichten widerstreitet. § 12 – Keine Religionsgesellschaft (Kirche) genießt vor anderen Vorrechte durch den Staat. Niemand kann zu religiösen Handlungen oder Feierlichkeiten überhaupt oder insbesondere zu den Verpflichtungen eines Cultus, zu welchem er sich nicht bekennt, vom Staate gezwungen werden. Ebensowenig darf zur Einhaltung von Verpflichtungen, die Jemand durch geistliche Weihen oder Ordensgelübde übernommen hat, ein Zwang angewendet werden. § 13 – Das Verhältniß des Staates zu den einzelnen Religionsgesellschaften (Kirchen) ist durch ein organisches Gesetz zu regeln, welchem folgende Bestimmungen zur Grundlage dienen sollen: a) Jede Kirche steht, wie alle Gesellschaften und Gemeinden im Staate unter dem Gesetze und Schutze des Staates. b) Jede Kirche ordnet und verwaltet ihre inneren Angelegenheiten selbständig. c) Das Recht, die Kirchenvorsteher durch freie Wahl zu bestellen, wird den kirchlichen Gemeinden und Synoden, zu welchen auch die Gemeinden Vertreter sende, eingeräumt. d) Das Kirchenvermögen wird durch Organe, welche von den kirchlichen Gemeinden, oder nach Umständen von Diöcesan- oder Provinzial-Synoden zu wählen sind, unter dem Schutze des Staates verwaltet. Bis zur organischen Regelung des Kirchenwesens auf diesen Grundlagen werden die bisher in dieser Beziehung vom Staate oder von einzelnen Personen ausgeübten Rechte und die denselben entsprechenden Verbindlichkeiten aufrecht erhalten. § 14 – Die Religionsverschiedenheit begründet keinen Unterschied in den Rechten und Pflichten der Staatsbürger. § 15 – Die bürgerliche Giltigkeit der Ehe ist bedingt durch die förmliche Einwilligung beider Brautleute vor der vom Staate zur Aufnahme des Ehevertrages bestellten Behörde. Eine kirchliche Trauung kann erst nach Schließung der Civil-Ehe stattfinden. Die Religionsverschiedenheit ist kein bürgerliches Ehehinderniß. § 16 – Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei. Jede vorgreifende Maßregel gegen die Lehrfreiheit ist untersagt. Die Unterdrückung des Mißbrauchs wird durch ein Gesetz geregelt. § 17 – Dem österreichischen Staatsbürger wird durch genügende öffentliche Anstalten das Recht auf allgemeine Volksbildung gewährleistet. Der öffentliche Unterricht wird auf Staatskosten unentgeltlich ertheilt, und durch ein Gesetz geregelt. Niemand darf seine Kinder oder Pflegebefohlenen ohne den zur allgemeinen Volksbildung erforderlichen Unterricht lassen. Unterrichts- und Erziehungsanstalten zu gründen, und an solchen Unterricht zu ertheilen, steht jedem Staatsbürger frei, wenn er seine sittliche, wissenschaftliche und technische Befähigung der competenten Behörde nachgewiesen hat. Der häusliche Unterricht unterliegt keiner solchen Beschränkung. Keiner religiösen Gesellschaft darf ein leitender Einfluß auf öffentliche Lehranstalten eingeräumt werden. § 18 – Jedermann hat das Recht, seine Gedanken frei auszusprechen, und durch Schrift, Druck oder bildliche Darstellung zu veröffentlichen. Dieses Recht darf unter keinen Umständen und in keiner Weise, namentlich weder durch Censur, noch durch Confessionen, weder durch Sicherheitsleistungen, noch durch Staatsauflagen, weder durch Beschränkungen des Buchdruckes und Buchhandels, noch endlich durch Postverbothe und ungleichmäßigen Postsatz, oder durch andere gewerbliche oder sonstige Hemmungen des freien Verkehres beschränkt, suspendirt oder aufgehoben werden. Der Mißbrauch dieses Rechtes wird nach den allgemeinen Gesetzen und bis zur Erlassung eines revidirten Strafgesetzes nach besonderen Preßvorschriften bestraft. § 19 – Alle Volksstämme des Reiches sind gleichberechtigt. Jeder Volksstamm hat ein unverletzliches Recht auf Wohnung und Pflege seiner Nationalität überhaupt und seiner Sprache insbesondere. Die Gleichberechtigung aller landesüblichen Sprachen in Schule, Amt und öffentlichem Leben wird vom Staate gewährleistet. § 20 – Das Eigenthum ist unter dem Schutze des Staates. Niemand darf aus seinem Eigenthume verdrängt werden, außer a) in Vollzug eines richterlichen Erkenntnisses, oder b) durch Enteignung (Expropriation) aus Gründen des öffentlichen Wohles. Letztere darf nur nach den Bestimmungen des Gesetzes, und gegen angemessene, in der Regel vorausgehende, Schadloshaltung vorgenommen werden. § 21 – Die Theilung des Eigenthumes in ein Ober- und Nutzungseigenthum ist für immer untersagt. Das Eigenthum darf weder durch das Lehensverhältniß, noch durch das Institut des Familien-Fideicommisses beschränkt sein. Die Auflösung des Lehenbandes und der Familien-Fideicommisse wird durch besondere Gesetze geregelt. § 22 – Jedermann hat nach Maßgabe seines Vermögens und Einkommens zu den Lasten des Staates beizutragen. § 23 – Jeder Staatsbürger und jedes Grundstück muß einem Gemeindeverbande angehören. Die Grundrechte jeder Gemeinde sind: a) die freie Wahl ihrer Vorsteher; b) die Aufnahm, neuer Mitglieder in den Gemeindeverband; c) die selbständige Verwaltung ihrer Angelegenheiten und die Handhabung der Ortspolizei; d) die Veröffentlichung ihres Haushaltes und in der Regel Oeffentlichkeit der Verhandlungen. Die Beschränkungen des Rechtes, das Gemeindegut oder das Stammvermögen der Gemeinde zu veräußern oder zu belasten, enthält das Gemeindegesetz. große Teile dieser Bestimmungen wurden in
den § 131 des Constitutions-Entwurfes bereits übernommen. § 24 – Zum Schutze des Staates und der Constitution besteht die Volkswehr, welche in das Heer und die Nationalgarde getheilt, und durch besondere Gesetze geregelt wird. Die Volkswehr wird auf die Constitution beeidet, und kann zur Unterdrückung innerer Unruhen nur über Aufforderung der Civil-Behörden in den gesetzlich bestimmten Fällen und Formen verwendet werden. siehe auch § 153 des
Constitutions-Entwurfes § 25 – Jeder Staatsbürger ist zum Dienste im Heere persönlich verpflichtet. Ausnahmen davon werden durch das Heergesetz bestimmt. § 26 – Das Heer untersteht den bürgerlichen Gesetzen und Gerichten. Militärgesetze und Militärgerichte haben nur im Kriege und bei Disciplinarvergehen in Wirksamkeit zu treten. § 27 – Alle wehrhaften Staatsbürger, die nicht im Heere dienen, haben in der Regel ein gleiches Recht und eine gleiche Pflicht zum Dienste in der Nationalgarde. Die näheren Bestimmungen und Ausnahmen von dieser Regel enthält das Nationalgardegesetz. siehe auch § 152 des
Constitutions-Entwurfes Der Kremsier Entwurf einer Constitution
für das Kaisertum Österreich, sollte, da der, den Entwurf ausarbeitende
"erste" österreichische Reichstag keine Abgeordneten Ungarns und
Lombardo-Venetiens in seinen Reihen hatte, nur in einem Teil des Kaisertums
Österreich gelten. Über das Verhältnis des "verfassungsmäßigen Staates
Osterreich" und den beiden ausgeschlossenen Reichsteilen sagt der Entwurf
nichts aus, doch wird wohl der § 6 als Möglichkeit zum Einschluß dieser beiden
Königreiche in den verfassungsmäßigen Staat eingefügt worden sein. Von einer,
vom Reichstag bewußt gewollten Teilung des Kaiserreiches kann in jedem Fall
nicht die Rede sein. Die durch den Monarchen, seit dem 2.
Dezember 1848 Kaiser Franz Josef, angeführten Gründe der Ablehung des
Verfassungsentwurfs sind im Manifest vom 4. März 1849 enthalten. FONTE: Fischer- Silvestri, Texte zur österreichischen Verfassungs-Geschichte, Geyer-Edition, 1970. |
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